Wie passen wir unsere Städte an die Folgen des Klimawandels an? Wie korrigieren wir städtebauliche Fehler der vergangenen Jahrzehnte. Wie reduzieren wir die Hitzeinseln? Diese Fragen beantwortet die Studie «Grünes Gallustal», erstellt im Auftrag des WWF St.Gallen. Geschaffen wurde ein Konzept, ein Regelwerk zur Integration von Natur in die Stadt St.Gallen zwecks Förderung der Biodiversität, Klimaanpassung und Siedlungsqualität. Mich freut es sehr, dass ich daran mitarbeiten durfte.
Während über zwei Jahren haben 19 Experten aus den Fachbereichen Ökologie, Biologie, Gartenbau, Landschaftsarchitektur, Raumplanung, Verkehrsplanung, Städtebau, Historie, Kommunikation, Projektumsetzung und Recht zusammen an diesem Projekt gearbeitet. Am Ende stehen 1500 Seiten Papier (bzw. PDF), eine Website und ein eindrücklicher 35-minütiger Film, der die Vision von St.Gallen im grünen Gallustal eindrücklich darstellt.
Als ich Ende 2019 von Regula Geisser von GSI Architekten AG eingeladen wurde, zusammen mit ihr neue Ideen zum Thema Strassenumgestaltung zu entwickeln, musste ich mir dies nicht zweimal überlegen. Schon oft habe ich mit dem Gedanken gespielt, das Thema Quartierstrasse anzugehen und wie man in St.Gallen dem ausufernden Perfektionismus in Sachen Strassenbau und vor allem – Dimensionierung – entgegentreten könnte bzw. wie Quartierstrassen in Zukunft angelegt sein sollten.
Grenzstrasse: Wozu dient dieser grosszügige Ausbau, wenn weder darauf gefahren, noch parkiert werden darf?
Man beachte den unbegrünten Vorgarten. Der Pingpongtisch könnte zugunsten eines echten Vorgartens auch auf der Strasse stehen...
Quartiertrassen müssen primär Liegenschaften erschliessen. Sie sind aber auch Lebensräume und Abstellplatz für Infrastruktur und nicht gerade benötigte Autos. Sie einfach als «Tempo-30-Zone» oder «Begegnungszonen» zu signalisieren, spricht mich nicht an, schliesslich fährt auch ein muskelkraftbetriebenes Velo mehr als 20 km/h. Warum ich Begegnungszonen vor allem nicht mag ist, weil sie als Ausnahmen von der Regel gesehen werden. Die Regel müsste anders sein.
In St.Gallen, wie auch in vielen anderen Städten, werden Quartierstrassen auf mögliche Verkehrsspitzen ausgelegt – also 6m Fahrbahn plus 2 Trottoirs à 2.50m. Es finden sich in St.Gallen genügend Beispiele, wo Strassen mit Gesamtbreiten von über 8m nur gerade 50 Wohneinheiten erschliessen. Wie die Verkehrszählungen der Stadt zeigen, werden in Wohnquartieren kaum über 3 Autos pro Minute gezählt. Zu Kreuzungssituationen kommt es seltener als man denkt.
Die Rappensteinstrasse als Beispiel einer überbreiten Quartierstrasse. Man beachte: Die Strasse endet beim letzten sichtbaren Haus auf dem Bild, eine Verlängerung ist ausgeschlossen. Künftig sollte die Stadt nach Routine-Werkeitungssanierungen solche Strassen der neuen Norm von "Grünes Gallustal" anpassen.
Auch ich habe zuerst die Stirn gerunzelt, als Regula Geisser mich davon überzeugen wollte, dass wir grundsätzlich solche Quartirstrassen nur noch 3.5m breit ausführen sollten. Die durch den Rückbau gewonnene Fläche sollte der Begrünung zugute kommen. Ein radikaler Ansatz.
Die Schönaustrasse jetzt und wie sie sein könnte.
St.Leonhardstrasse (Bild: GSI Architekten)
Wir entwickelten die Idee und prüften die Anwendung auf einige Bespielstrassen. Während es ersten Covid-Lockdowns 2020 blieb ich nicht zuhause. Ich begann, St.Gallens Quartiertstrassen mit dem Velo abzufahren und durchzufotografieren. Neben schlimmen Beispielen, wie die Schöckstrasse, fand ich aber auch überraschend gute Ansätze aus den 1980ern, z.B. die Reherstrasse.
Rund 2500 Fotos dokumentieren das St.Galler Strassennetz.
Aus den gewonnen Erkenntnissen kam ich zur Überzeugung, dass der Ansatz von «radikal» via «visionär» auf «umsetzbar» umzustufen ist. Ja, es ist möglich, Strassen so umzugestalten. Die Begehung bzw. Velobefahrung von Gemeinden in der Umgebung bestätigte die Ausführbarkeit unserer Pläne.
Die Käsereistrasse in Berg SG als Beweis, dass es auch mit 3.5m Breite und dem Verzicht auf Troittoirs funktioniert.
Unabhängig vom signalisierten Temporegime wird auf Strassen mit wenig Übersicht und ohne Trottoirs langsamer gefahren, oder anders formuliert: Trottoirs schaffen Freiraum für höhere Geschwindigkeiten.
Im Alltag fühlen sich Fussgängerinnen und Fussgänger in Tempo-30-Zonen zunehmend weniger verpflichtet, die Trottoirs zu benützen. Vielmehr wird der jeweils kürzeste Weg gegangen, auch wenn dieser diagonal über eine Kreuzung führt. Auch spielende Kinder begnügen sich nicht mit Trottoirflächen. Die strikte Trennung in Fuss- und Fahrverkehr ist auf Qurtierstrassen wenig sinnvoll. Daher nennt «Grünes Gallustal» sie auch Aufenthaltsstrassen. Grünes Gallustal empfiehlt die Trottoirreduktion in Quartiertstrassen. Bei Hauptstrassen und
Quartierschliessungsstrassen bleiben sie.
Im Rahmen ihres Konzepts «Projet urbain» befreit die Stadt Rorschach Quartierstrassen von Trottoirs. Die Ausführung ist im Vergleich zum konvetionellen Ausbau mit Trottoir günstiger. Auch ohne Signalisation wird hier langsamer gefahren, da keine Fahrbahn vorgegeben ist. In Sachen Begrünung gibt's allerdings noch Luft nach oben.
Die Arbeiten zogen sich in die Länge. Der Themenumfang von Grünes Gallustal wurde im und durch den Entwicklungsprozess stetig erweitert, so dass angedachte Veröffentlichungstermine verschoben werden mussten.
Während ich meinen Bereich anfänglich auf einfache Quartierstrassen begrenzte, begann ich mir später auch Gedanken zur Ausgestaltung von Plätzen anstelle von Kreuzungen zu machen, ein Thema das mich schon länger beschäftigte.
Platzlinden oder andere Bäume markieren Plätze und beruhigen den Verker. Martinsbergstrasse, Baden.
Schliesslich fanden auch Hauptachsen Einzug in die Überlegungen. Gerade diese sind teilwese extrem überbreit. Bevor 1987 die Stadtautobahn eröffnet wurden, waren die Zürcher und die Rorschacher Strasse teilweise doppelspurig geführt. Die Spuren wurden zwar umgemalt, schmaler wurden die Querschnitte jedoch nicht.
Rorschacher Strasse beim Silberturm: Der mittlere Streifen könnte ohne Einschränlungen für den Verkehr begrünt werden.
Unsere neu defninierten Strassenbaunormen, angewendet auf das Quartier Stephanshorn. Die Versiegelung lässt sich von 53 auf 33% reduzieren.
Das Strassennetz im Quartier Stephanshorn. Die Grafik links zeigt die aktuell versiegelte Fläche in schwarz. Rechts davon, wie dieVersiegelung verringert werden könnte.
Anhand von Beispielstrassen und -quartieren errechneten wir, wie hoch der Grünflächengewinn für die Stadt St.Gallen sein könnte, wie viele Bäume gepflanzt werden können. Die Resultate finden sich in der Dokumentation von Grünes Gallustal.
Es wäre ein grosser Erfolg, wenn auch nur einzelne Elemente daraus umgesetzt würde. Die Massnahmen des Bereichs Strassenraumgestaltung könnte sofort in die kommenden Sanierungen einfliessen. Ich wüsste nicht, was dagegen sprechen könnte.
Film "Grünes Gallustal", 32min
Grünes Gallustal: Kapitel 4, M11: Massnahmen Strassenräume (106 MB)
Keine Doppelspurigkeiten, Rückbau der Steinachstrasse
Breitere Autos – breitere Strassen?
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