SAINT ETIENNE
Sie machen Popmusik und sie machen sie gut
«Das können wir auch», sagten sie sich als Teenies und bastelten aus Versatzstücken, ohne selbst ein Musikinstrument spielen zu können, ihre ersten Hits. Über Nacht, mit Stil und Bescheidenheit brachte es das Trio SAINT ETIENNE 1990 an die Spitze des britischen Pophimmels. Mit «Finisterre» haben sie nun wahrscheinlich das beste Pop-Album dieses Jahres veröffentlicht.
(Foto: Musikvertrieb)
Um es hleich vorweg zu nehmen. Für mich ist SAINT ETIENNE die beste Popband der Neunziger. Irgendwann,1993, beim Durchhören der UK-Charts einmal wahrgenommen, liess mich ihre Musik aus zeitgemässen Dancepop-Elementen und der Melancholie halbverblichenen Südseeromanzen-Filmsoundtracks nicht mehr los.
Ob klassischer Pop, New Jazz, House, Trance, Lounge, Elektro oder Wave, SAINT ETIENNE zeigen sich mal kommerziell, mal experimentierfreudig. Dabei nehmen sie nicht immer Rücksicht auf aktuelle Trends.
Während die meisten Produzenten und Musiker für sich stets neue Genres proklamieren, bezeichnen sich SAINT ETIENNE als Popband. «Wir machen Popmusik – einfach Popmusik», definieren sie ihren Stil. Einen Anspruch nennen sie nicht. Ihre Musik soll einfach gefallen. Und das tut sie auch. Sie verstehen Pop als Kulturgut. Durchgestylt und Teil des Gesamtkunstwerks sind neben den Songs auch die Visuals, also Fotos, CD-Covers und Video-Clips. So ist auch im neusten Clip zur Single «Action» kein Bandmitglied zu sehen.
Wie tritt man auf, wie posiert man, wie gestaltet man verkaufsfördernde CD-Covers, wie stellt man eine Sängerin ins richtige Licht? Während andere Bands, allen voran die Teenielieblinge aus der Retorte, sich strikte an diese eisernen Gesetze für den kommerziellen Erfolg halten, stellen sich SAINT ETIENNE dagegen. Genau das macht sie so sympathisch. Vielfach halten sie sich nicht einmal an übliche Songstrukturen aus Strophen und Refrains. Mit ihrer Unberechenbarkeit überraschen die Briten ihre Fans stets aufs Neue. Das macht die band und ihre Musik spannend.
SAINT ETIENNE sind das Weihnachtskind BOB STANLEY, PETE WIGGS und Sängerin SARAH CRACKNELL. Techniker BOB und PETE sind die musikalischen Tüftler. Die Songs entstehen heute hauptsächlich im Dreierteam. Obwohl SAINT ETIENNE während der letzten zehn Jahre so ziemlich alle Musikstile im Popsegment durchkreuzt haben, zieht sich der Sixties-Touch wie ein roter Faden durch ihre Alben. So nennen sie denn auch die Musik der BEACH BOYS und der BEATLES als wichtigen Einfluss neben der ganzen Acid-House-Welle Ende der Achtziger. Diese war für BOB und PETER der eigentliche Auslöser, ins Musikgeschäft einzusteigen. «Bands wie COLDCUT oder TIM SIMENONs BOMB THE BASS haben uns gezeigt, dass man nicht unbedingt Geld haben muss oder der geborene Musiker sein muss, um sich auszudrücken oder etwas zu machen,» so BOB STANLEY in einem seiner äusserst seltenen Interviews. In der Tat spielt keiner der beiden ein richtiges Musikinstrument. Sie sehen sich nicht als Musiker im eigentlichen Sinn. Sie kämen immer mit einem Berg von Platten und Ideen ins Studio, woraus dann ein praktisches Ergebnis zusammengebastelt werden soll. UK Garage, deutscher Elektro und auch Jazz sind BOBs und PETEs meistgehörte Musicstyles. Die beiden betätigen sich in Londons Szene auch als DJs, während sich SARAH ihren neuen Mutterpflichten widmet.
Im zarten Alter von sechs Jahren haben sich BOB und PETE zum ersten Mal getroffen. Sie wuchsen zusammen auf. Später produzierten ein Pop-Fanzine und gründeten ein Indie-Label für Kleinstauflagen. Beide liebten klassische gut gemachte Popmusik. 1990 begannen sie ihre Arbeit als SAINT ETIENNE, benannt nach dem AS ST. ETIENNE. Damit wollten sie ihre unenglische Anti-Proleten-Identifikation zum Ausdruck bringen. Entgegen ihrer gleichaltrigen Kollegen hatten sie nämlich keinen englischen Fussball-Lieblingsverein. Die erste Single «Only love can break your heart», ein NEIL YOUNG COVER, wurde über Nacht zusammen mit einem guten Freund und einer Sängerin, welche dieser schnell für diesen Zweck mitbrachte, eingespielt. SARAH, die heutige Stimme von SAINT ETIENNE stiess dann erst ab der zweiten Single dazu.
Wie viele Alben SAINT ETIENNE bis heute veröffentlicht haben, lässt sich nicht genau eruieren. Die Brecher aller ungeschriebenen Musikgesetze halten sich natürlich auch nicht an Standards wie Albums oder Singles. So sind schon diverse EPs, Mini-Alben, Teil-Best-ofs und Long-Maxis auf verschiedensten Labels erschienen. Selbst die lange Discografie auf der Fanclubpage www.saint.etienne.net ist nicht vollständig.
«The world began in Eden, an ended in Los Angeles»
Einleitung zu «The way we live now» aus dem Album «Finisterre»
Best of CD / Best of DVD: «Smash the hits» (Sony)
Wer gute Popsongs mag, und mit Popsongs meine ich Ohrwürmer, die nach einmaligem Anhören schon sitzen und trotzdem nie verleiden, der sollte sich diese Compilation mit dem Untertitel «Singles and more 1990 – 1999» reinziehen. Enthalten sind sämtliche ETIENNE-Perlen wie NEIL YOUNGs «Only love can break your heart», der verträumte Lalala-Popsongs «Pale movie», der Eurodance-Titel «He’s on the phone» oder die Ballade «Hobart paving», die für den deutschen Kinofilm «Banditen» gecovert wurde.
Die DVD enthält ergänzend zur CD die Videobilder. Achtung Kunst, kann man hier nur warnen. Die Bildsprache von SAINT ETIENNE irritiert zuerst jeden Videoclip-Watcher. Die Bilder regen jedoch auch zum Nachdenken an oder inspirieren ganz einfach.
Aktuelle CD: «Finisterre» (Mantra / Musikvertrieb)
Nach einigen experimentellen Irrwegen haben SAINT ETIENNE wieder auf die Werte ihrer früheren Hits zurückgefunden. Eingängige Melodien, einen Sixties-Touch verbunden mit aktuellen bzw. avantgardistischen Elementen. Diese sind zurzeit Elektro-Sounds, wie man sie zu Beginn der Synthie-Ära zu hören bekam. «Action» heisst die erste Single aus «Finisterre». Eine funky-Nummer mit den üblichen ETIENNE-Überraschungsmomenten. Mit dem Rap-Song «Soft like me», gerappt von der UK-HipHop-Lady WILDFOLWER, sind SAINT ETIENNE nun auch in die HipHop-Sparte vorgedrungen. Mein Tipp: «New thing». Dieser Songs fährt voll rein.